DAMALS IN EUROPA. Tschechische Künstler in den totalitären Regimes 1938-1953

22/09/2017 bis 21/01/2018
Ausstellungssaal Masné krámy
Autor: 
Marie Klimešová, Hana Rousová, Zbyněk Baladrán
Kurátor: 
Ivana Jonáková

Die vierziger Jahre – Ära der Unfreiheit und ständiger Gefahr, Hunderttausende der Flüchtlinge, die quer durch und außerhalb von Europa strömen und dabei möchte sie niemand irgendwo empfangen, Millionen der Verschleppten und Ermordeten. Und die Kunst? Die einzige Stelle der wirklichen schöpferischen Freiheit bleibt im Künstler selbst, in seinen Sehnsüchten und Ärger.

Unter Druck der Kriegskonflikte, Naturkatastrophen und weiterer lebensbedrohlicher Bedingungen sind schätzungsweise 65,5 Millionen Menschen weltweit auf der Flucht. Es ist jeder hundertvierzehnte Mensch. Die UNO registriert „nur“ eine Bruchzahl von diesen Flüchtlingen – 21,3 Millionen, wobei die meisten aus Syrien, Afghanistan, Burundi und Südsudan stammen. Die Hälfte von denen sind Kinder. Während die Zahl der Flüchtlinge in den Jahren 1996 bis 2011 relativ stabil war, wächst sie alljährlich seit dem Anfang des syrischen Kriegs im Jahre 2011 an und ist insgesamt die größte seit dem zweiten Weltkrieg. Gleich wie damals bemühen sich die Menschen, in eine sicherere Welt zu kommen, ihr eigenes Leben und Leben ihrer Familien zu retten, gleich wie damals will sie niemand irgendwo empfangen. Hinter der Menschenmasse, wo jeder bedeutend und gleichzeitig bedeutungslos ist, verbergen sich dramatische Schicksaale.  Dieser Tatsache widmet sich die Ausstellung Damals in Europa. Damals, in den Jahren 1938 ̶ 1953, kam es zu den größten unfreiwilligen Verschiebungen der Europäer in der Geschichte. Ihr Veranlasser und Vollzieher zugleich war die widersinnige nazistische Ideologie, systematisch realisiert seit der Machtergreifung Hitlers in Deutschland im Jahre 1933 und gipfelnd während des zweiten Weltkriegs. In die Schicksaale vieler Menschen griff doch bald nach dem Krieg das Errichten eines weiteren totalitären Regimes ein, diesmal des kommunistischen.
Die Historiker entdecken bis heute lokale und individuelle Dramen, die niemandem bekannt waren, oder die man im Rahmen der Gesamtbewertungen der Ereignisse in dieser Epoche vergaß. Mit dem Bewusstsein, dass man diese nicht in größere und kleinere aufteilen kann, wenn jedes Drama in die Leben konkreter Menschen fatalerweise eingegriffen hatte, ermöglichte die Ausstellung nur symbolisch an einige Ströme derjenigen zu erinnern, die versucht hatten diesen Dramen zu entgehen und nicht deren Opfer zu werden. Zugleich war es doch nicht möglich, die Verschiebungen von Millionen Juden zu übergehen, die in die Vernichtungslager gewaltsam transportiert wurden. Und mit ihnen ebenso Roma, politische Gefangene und Kriegsgefangene.
Bewegung der Menschenmasse, die in den vierziger Jahren quer durch Europa strömte, vergegenwärtigt die Ausstellung durch Amateurfotografien, also gleicherweise, wie zu uns Schicksal der gegenwärtigen Flüchtlinge durchdringt. Ihre Mitteilung benötigt keinen Kommentar. WIR waren es damals, nun sind es SIE, persönliche Geschichten der Menschen sind die gleichen. Durch ähnliche Verschärfung  sind auch die Kunstwerke gekennzeichnet, die zusammen mit den Fotografien eine duale Ausstellungsstruktur bilden. Die Fotografien nehmen die Dramen auf, in denen das Individuum manipuliert ist und zum Teil der anonymen Menschenmenge wird. Die Kunstwerke treten aus der Anonymität hervor, deklarieren persönliche Freiheit, stemmen sich gegen Manipulation und sprechen einen konkreten Menschen an. Sie transzendieren die Wirklichkeit und verschieben diese in die generalisierende Lage des Zeichens und Symbols.

 

Emigration der deutschen Antifaschisten nach Böhmen 10 000
Seit dem Jahre 1933, nach der Machtergreifung Hitlers bis zum Münchner Abkommen am 29. September 1938, gingen quer durch die Tschechoslowakei gegen zehn tausend deutsche und österreichische, offiziell registrierte Flüchtlinge. Die Zahl der inoffiziellen Flüchtlinge, zu denen überwiegend Juden zählten, konnte ungefähr die gleiche sein. Bekannte Journalisten und Künstler standen unter größerer Schutz, wie zum Beispiel Maler Oskar Kokoschka oder Schriftsteller Heinrich Mann, Alltagsmenschen waren meistens mit Misstrauen empfangen, sie durften in der Tschechoslowakei nicht arbeiten und es wurde vorausgesetzt, dass sie da nur vorübergehend bleiben. Die Juden bildeten etwa die Hälfte der Flüchtlinge. Die Verfolgung in Deutschland komplizierte paradoxerweise aus politischen Gründen ihre Stellung auch in anderen Ländern einschließlich der Tschechoslowakei.

John Heartfield, Mitbegründer des Berliner Dada, wanderte im Jahre 1933 nach Prag aus. Er wurde Mitglied des Kunstvereins Mánes und setzte unter anderem die Herausgabe der politisch engagierten Zeitschrift Arbeiter-Illustrierte-Zeitung (AIZ) fort, die er im Jahre 1921 in Berlin gegründet hatte. 1936 änderte er ihren Namen auf Volks-Illustrierte. Für beide Zeitschriften schuf er insgesamt 237 Fotomontagen. Nach der Besetzung des Sudetenlandes im Jahre 1938 flüchtete er nach England.

Flüchtlinge aus dem Sudetenland 370 000
Nach der Besetzung des Sudetenlandes vom nazistischen Deutschland aufgrund des Münchner Abkommens am 29. September 1938 flüchteten tschechoslowakische Bürger – Tschechen, Juden, Roma und antinazistisch gesinnte Deutschen – unter Druck der politischen Ereignisse ins Inland. Mit der Grenzänderung gerieten sie nämlich in einem fremden Staat mit repressiven, unter anderem antisemitischen, sog. Nürnberger Gesetzen, wo diese Bürger, wie sie ihre Flucht den tschechoslowakischen Behörden begründeten, verschiedensten Attacken hatten standhalten müssen, die ihr Leben sowie Vermögen bedroht hatten. Ihr Vermögen konnten sie nicht retten, sie schafften nur das Nötigste mitzunehmen. Den Flüchtlingen half die Regierungsverordnung vom 11. 11. 1938 der damals entstandenen Tschecho-Slowakischen Republik, auf deren Grund das Pflegeinstitut für Flüchtlinge beim Ministerium für Sozialfürsorge errichtet wurde; auch andere Institutionen waren hilfsbereit, wie Tschechisches Herz, der Tschechoslowakische Sokol-Verband, Caritasverbände, das Tschechoslowakische Rote Kreuz, Verband der tschechoslowakischen Jugendpflege, Sozialinstitut der jüdischen Religionsgemeinden und weitere.

Flüchtlinge vor dem Nationalsozialismus 45 000
Nach der Machtergreifung Hitlers in Deutschland und im Zusammenhang mit dem Bürgerkrieg in Spanien war es offenkundig, dass politische Spannung in Europa steigert. Danach kam es zum Anschluss Österreichs, Münchner Abkommen, Besetzung von Böhmen und Mähren und im Jahre 1939 brach der Zweite Weltkrieg aus. Vor seiner Brutalität versuchten Millionen Menschen aus verschiedensten Orten Europas zu flüchten, häufig unter dramatischen Umständen. Sie hatten doch nirgendwohin überzusiedeln. Aus Notwendigkeit erschien zum Schluss das einzige perspektive Ziel Übersee zu sein – England, Amerika, für Juden ebenso Palästina. Sie wurden jedoch Opfer von Schmugglern, politischen Absichten der aus der Vorkriegszeit überlebenden Großmächte, erschütternden Lebensbedingungen. Niemand möchte sie irgendwo empfangen. Es fanden sich doch tapfere Leute, die nicht zögerten ihre eigenen Leben zu riskieren, um den Bedrohten zu helfen. In Böhmen gelang es Nicholas Winton, 669 jüdische Kinder zu retten, für die er Adoptivfamilien in Britannien gefunden hatte; Olmützer Egon Redlich rettete 80 Kinder, indem er sie in Pflegefamilien in Dänemark schickte; britische Journalistin Clare Hoollingwort half in der Zusammenarbeit mit dem Britischen Komitee für Flüchtlinge circa 2000 tschechoslowakische Juden, Soldaten, politisch engagierte Personen usw. zu retten. Etwa 15 000 Tschechoslowaken (davon etwa 5000 Juden) hatten in die Sowjetische Union geflüchtet, wo aber die meisten als politisch unzuverlässige Personen Opfer von sowjetischen Repressionen wurden und im Gulag gerieten. Viele starben da. Eine ganze Reihe der Emigranten nahm an Befreiungskämpfen in den Reihen der alliierten Truppen sowie der Roten Armee teil. Die Gesamtzahl der Migranten schätzt man auf 60 Millionen, davon mindestens 45 000 Tschechoslowaken, beziehungsweise Bürger des Protektorats Böhmen und Mähren.

Deportationen von Juden, Roma und politischen Gefangenen 150 000
Wenn wir unter dem Begriff Holocaust nazistische Verfolgung als Gesamtheit verstehen, schätzt man die Zahl seiner Opfer – Männer, Frauen und Kinder – zwischen 11 000 000 und 17 000 000, davon gegen 6 000 000 Juden. Am Tag der Gründung des Protektorats Böhmen und Mähren befanden sich auf diesem Gebiet über 120 tausend Juden. Etwa dreißigtausend gelang es zu emigrieren, gegen zehntausend bevorzugten Selbstmord vor Deportationen in Konzentrationslager. Den Lagern fielen gegen achtzigtausend Juden zum Opfer, nur etwa 10 500 Personen überlebten. Eine weitere programmatisch liquidierte Minderheit waren Roma. Von den ursprünglich etwa siebentausend gelang es rund sechshundert die Konzentrationslager zu überleben. In den nazistischen Konzentrationslagern wurden ebenso über 120 000 politische Gefangene aus den Reihen der tschechischen Widerstandsbewegung gefangen gehalten – Künstler, Journalisten, Intellektuellen, ehemalige Politiker, engagierte Bürger verschiedenartiger Berufe. Viele starben, einigen gelang es, gleich wie seltenen weiteren Gefangenen, unter dramatischen Umständen zu überleben. Die Juden, ähnlich wie die Gefangenen aus anderen Gruppen außerhalb der jungen, für schwere Arbeit selektierten Menschen, wurden gleich nach der Ankunft in die Lager in Gaskammern umgebracht und anschließend in Öfen verbrannt; die Roma wurden in diese lebendig geworfen, politische und weitere Gefangene, die am Typhus erkrankt hatten, wurden mit einem Einstich von Benzin in die Venen umgebracht, um Epidemien zu verhindern. 10 000 Bürger des Protektorats starben während der Todesmärsche und 3 000 in den Lagern der sog. Zwangsarbeit.

Vertreibung der Deutschen 2 500 000
Auf der Grundlage der Volkszählung im Jahre 1930 lebten in der multiethnischen Tschechoslowakei 3 100 000 Menschen, die sich zur deutschen Nationalität bekannten. Aus diesen offiziellen Nummern und beim Berücksichtigen der Kriegsfolgen auf die Größe dieser Population leitet man die Schätzung der Zahl von den häufig unter drastischen Umständen vertriebenen Deutschen vom Juni 1945 bis zum Ende des Jahres 1946 ab. Deren Zahl bewegt sich gegen 2 500 000 einschließlich seltener Juden, die Holocaust überlebt hatten und weil sich diese im Jahre 1930 zur deutschen Nationalität bekannten, wurden sie ebenso vertrieben. Wieder in „Viehwaggons“, diesmal aber meistens nur Einzelne. Ihre Familien starben in den nazistischen Konzentrationslagern. Es handelt sich um eine der widersinnigsten Folgen der sog. Beneš-Dekrete, welcher bis heute nur marginale Aufmerksamkeit gewidmet wird. Nach dem Krieg wurden nach Deutschland – ins Land in Trümmern und mit katastrophalen Lebensbedingungen – insgesamt 12 000 000 Deutschen aus verschiedenen Ländern vertrieben.

Ansiedlung der Grenzgebiete 1 500 000
Wiederansiedlung der Grenzgebiete, die begann sich gleichzeitig mit der Vertreibung der Deutschen zu entwickeln, verlief in den Jahren 1945-1947 am stärksten und setzte mit geringer Intensität bis zum Jahr 1952 fort. Deren Beteiligte waren besonders Tschechen und Slowaken, aber auch Angehörige weiterer europäischer Nationalitäten. Von Grund an und dauerhaft änderte sich ethnische und kulturelle Struktur des ehemaligen Sudetenlandes. Zwei Drittel der hiesigen Industrie waren bis zum März 1947 verstaatlicht, aber es fehlten Facharbeitskräfte, die fähig wären, deren Betrieb zu sichern. Das der Deutschen enteignete Eigentum wurde wieder verteilt, doch eine ganze Reihe der Lokalitäten, überwiegend Dörfer, blieb unbesiedelt und verfiel allmählich. Die Ansiedlung der Grenzgebiete verlief hauptsächlich in den ersten Nachkriegsmonaten und Jahren wild und ungleichmäßig. Einwanderer kamen mit verschiedensten Absichten – einige mit dem Ziel sich ein neues Leben aufzubauen und sich da dauerhaft anzusiedeln, andere kehrten mit der Zeit zurück ins Inland. Keine Ausnahme waren auch eigennützige Gründe und manchmal vielleicht nur Sehnsucht nach Abenteuer.

Flüchtlinge vor dem Kommunismus 25 350
„Eiserner Vorhang“ begann an der tschechischen Westgrenze seit dem Jahre 1948 zu entstehen, wirklich undurchlässig wurde er erst im Jahre 1952 mit der Einführung der Hochspannung in die mittlere Wand der dreiwandigen Grenzbefestigung.  Sie sollte unaufhörlichen Fluchten der tschechoslowakischen Bürger aus der kommunistischen Tschechoslowakei nach Österreich und Deutschland verhindern. Ihre Wirksamkeit wurde durch Verminen einer breiten Grenzzone und Militärsystem der Grenzüberwachung vervielfacht. Die Zeitpropaganda camouflierte diese schwierige Situation durch Mythus des Kampfes der Grenzsoldaten gegen die Westterroristen. Die Gesamtzahl der Flüchtlinge bis zum Jahre 1951 schätzt man auf 25 350. Es handelte sich überwiegend um politische Emigranten. Viele von diesen starben, wenn sie versuchten, Minenfelder und stromüberwachte Grenzbefestigung zu überwinden. Meistens waren sie doch früher verhaftet worden, bevor sie diese überhaupt erreichten. Nach Gerichtsprozessen warteten auf sie die härtesten Gefängnisse der fünfziger Jahre – Uranbergwerke in St. Joachimsthal und weitere.

 

AUTOREN: Hana Rousová, Marie Klimešová, Zbyněk Baladrán
KURATORIN: Marcela Štýbrová
ARCHITEKT DER AUSSTELLUNG: Zbyněk Baladrán
GRAPHISCHES DESIGN: Adéla Svobodová
BEARBEITUNG DER FOTOGRAFIEN: Radek Typovský 
SPRACHREDAKTION: Lenka Jindrová
ENGLISCHE TEXTE: Eufrat Group s.r.o., Richard Savage
DEUTSCHE ÜBERSETZUNG: Věra Vlasatá
INSTALLATION: Jan Jirka, Jaroslav Pašek, Miroslav Tázler
GESCHNITTENE GRAFIK: Jakub Čermák, Signpek s. r. o.
BEGLEITPROGRAMME: Jiří Hlobil, Marcela Štýbrová

DIE WERKE FÜR DIE AUSSTELLUNG HABEN GELIEHEN:

Südböhmische Aleš-Galerie in Hluboká nad Vltavou, Tschechische Presseagentur, Galerie der Hauptstadt Prag, Galerie Maldoror, Galerie Moderne, Galerie der modernen Kunst in Hradec Králové, Galerie der modernen Kunst in Roudnice nad Labem, Galerie der Mittelböhmischen Region, Galerie der bildenden Kunst in Eger, Galerie der bildenden Kunst in Ostrava, Galerie Goldene Gans, Galerie Verstummte Klinke, Stadtmuseum Chotěboř, Mährische Galerie in Brünn, Museum der Stadt Brünn, Regionalgalerie in Liberec, Institut für das Nationale Schrifttum, Profimedia.CZ AG, Nordböhmische Galerie der bildenden Kunst in Litoměřice, Staatliches Landesarchiv Domažlice mit dem Sitz in Horšovský Týn, Staatliches Landesarchiv Liberec, Ostböhmische Galerie in Pardubice, Westböhmische Galerie in Pilsen, Westböhmisches Museum in Pilsen, Privatsammler und Archiv der Autorinnen.

Das Projekt wurde mit finanzieller Unterstützung vom Kulturministerium der Tschechischen Republik und vom Staatsfonds für Kultur der Tschechischen Republik realisiert.